Fortschrittlicher und humorvoller Mediziner
Praktischer Arzt in Marl von 1895 bis 1924

* 11. April1868 in Wiedenbrück
✝ 2. Juni 1924 in Marl
Medizinstudium in Münster
Stabsarzt der Landwehr
1895 praktischer Arzt in Marl
25.April 1898 Heirat mit Maria geb. Schipper, Tochter eines Zahnarztes, acht Kinder
1910 bis 1919 Mitglied der Amtsversammlung
1906 bis 1921 Mitglied der Gemeindevertretung
Dr. Josef Stüer ließ sich 1895 als praktischer Arzt in Marl nieder. Bereits 1904 ließ er das freistehende Haus in Alt-Marl, Breite Straße 36, bauen. Hier hatte er in zwei Räumen seine Praxis, die vom Garten aus betreten wurde. Ein im Besitz seiner Enkelin noch vorhandenes Schild zeigt die Öffnungszeiten: „Sprechstunden 8 – 10, 2 ½ – 4, Sonntags 9 – 10.“ Mit Stolz trug er den Ehrentitel „Sanitätsrat“, der in Preußen an verdienstvolle Ärzte verliehen wurde, die nicht im Beamtenverhältnis standen und über 20 Jahre praktizierten.
Dass er diesen Titel verdient hatte, stand für seine Zeitgenossen außer Frage. Zur Not zog er auch Zähne. Umso unbegreiflicher war für viele, dass nach einem Bericht der RVZ vom 3.4.1922 in seine Praxis eingebrochen und sein Sprechzimmer mit den medizinischen Instrumenten und Büchern fast ganz ausgeraubt wurde. Dr. Stüer war sehr fortschrittlich für die damalige Zeit. Damit sich die Kranken nicht zu seiner Praxis schleppen mussten, richtete er regelmäßig Sprechstunden in der Gaststätte Steinernkreuz, in Hüls bei der Gaststätte Trogemann und in Polsum bei der Gaststätte Huthmacher ein.
Hierzu beschaffte er sich ein ausgemustertes Militärpferd. Eines Tages, als er nach der Sprechstunde vom Steinernkreuz nach Hause reiten wollte, ertönte ein Hornsignal, das sein Pferd sofort erkannte und sich ohne zu zögern in eine Abteilung der Landwehr einreihte, die dort gerade ein Manöver abhielt. Der Oberst herrschte den Zivilisten an, was er denn dort mache. Antwort von Dr. Stüer: „ Fragen Sie nicht mich, fragen Sie mein Pferd“.
Das führte zu großer Heiterkeit und zu einer Verabredung und Umtrunk am gleichen Abend in den Gaststätten Lindenhof und Bügeleisen in Alt-Marl.
Am 23. März 1924 versorgte Dr. Stüer auch zwölf Verletzte, die ins nahe Amtsgebäude geschafft wurden, weil betrunkene belgischen Besatzungssoldaten eine Straßenbahn auf der Kreuzung Hoch-, Barkhaus- und Vikariestraße zum Umsturz gebracht hatten. Er war mehrere Jahre Leiter der Lungenfürsorgestellen Marl und Polsum, Mitglied des Kuratoriums der Rektoratsschule, Vorsitzender des Verkehrsvereins sowie seit 1919 Mitglied des Kirchenvorstandes von St. Georg.
Auch wegen dieses sozialen Engagements war Dr. Stüer sehr beliebt. In der Festschrift zum 60-jährigen Bestehen des Alten Marler Kriegervereins 1869 von 1929 heißt es: „In den Kriegsjahren hat er viel Trost gespendet während der Ausübung seiner Praxis […] Auf seine Veranlassung stiftete der Verein wiederholt Liebespakete und Feldpostkarten. […] Seine Beliebtheit zeigte sich so recht bei seiner Beerdigung am 2.Juni 1924. So einen Leichenzug hat man in Marl noch nie gesehen und wird ihn vielleicht auch in hundert Jahren nicht zu sehen bekommen.“ Eine riesige Menschenmenge folgte der von schwarzen Pferden gezogenen schwarzen Kutsche, in der man den Sarg hinter einer Glasscheibe sehen konnte. Man betrauerte einen allseits geschätzten und über die Grenzen Marls hinaus bekannten Menschen. Sylvia Eggers
Quellenverzeichnis:
Alter Marler Kriegerverein 1869 (Hrsg.): Festschrift zum 60jährigen Bestehen verbunden mit Fahnenweihe des Gardevereins Marl 1929, S. 13 u. 15
Interview mit Bärbel Hentschel (Enkelin von Dr. Stüer) 22.03.2023
Todesanzeigen der Familie Stüer, der Amts- und Gemeindevertretung, des Verkehrsvereins Marl, des Kirchenvorstands von St. Georg vom 2. Juni 1924